Auszug aus dem Buch |
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EinleitungDer niederdeutsche Dichter Klaus Groth berichtet im Jahre 1864 in seinem Aufsatz Land und Leute in Dithmarschen von dem hohen Ansehen, das Rechnen und Mathematik in seiner Heimat hatten. Er zitiert einen kleinen Spruch, der zur rechnerischen Genauigkeit auffordert und setzt fort: Und bezeichnender [ist] fast noch ein Spruch, den zu meiner Zeit gewiß jeder Knabe in sein Rechenbuch schrieb, dessen Schlußzeile schon meine Knabengedanken in Bewegung setzte: Das Rechnen schärfet den Verstand Das wird also Volksmeinung gewesen sein. Lange bevor an Bürger- und Dorfschulen nach jetzigem Muster gedacht wurde, war jeder Friese ein Rechenmeister. Arithmetik und Geometrie vererbten sich von Vater auf Sohn. In den langen Winterabenden saßen die Bauern und heimgekehrten Seeleute, jung und alt, Knecht und Magd [zusammen …, und bei ihnen] saßen stets einige um die Schiefertafel und zeichneten geometrische Figuren, machten algebraische Berechnungen, lösten Wettaufgaben, „Lustexempel“, wie sie bezeichnend genannt wurden, die man einander aufgab, oft selbst aus weiter Entfernung einander zusandte. […] Rechenbücher standen daher neben Bibel und Evangelien und Gesangbuch in fast jedem Hause auf dem Bücherbrett über der eingelassenen Bettstelle oder der Dörnschen-(Wohnstuben-)tür. Die Namen der Verfasser solcher Rechenbücher wurden ganze Generationen hindurch mit Ehrfurcht genannt und lösten einander langsam ab, wie einst die Namen der deutschen Dichter, indem neue Größen an Stelle der alten traten; so der Name Valentin Heins, Lambert, Paul Halcke, später noch als letzter dieser Art Kroymann. Die Titel der Rechenbücher waren in älterer Zeit gar kurios und klangen süß verlockend oder gar erhaben, z. B. Paul Halckes Sinnenconfect, soll bedeuten Naschwerk fürs Nachsinnen, Valentin Heins‘ Schatzkammer. Bei der Prüfung des Wahrheitsgehalts dieser Aussage gab die Arbeit von Gerhard Becker, Schuleinschreibebücher in Niedersachsen, wesentliche Hinweise. Es fanden sich bald erste Handschriften von Schülern und Erwachsenen mit Bearbeitungen von Aufgaben aus Rechenbüchern und anspruchsvolleren mathematischen Aufgabensammlungen. Nach einer etwa fünfzehnjährigen Suche sind inzwischen, wie schon im Vorwort erwähnt, über zweihundert dieser speziellen Rechenhandschriften ans Tageslicht gekommen. Sie sind zwischen 1610 und 1860 entstanden, haben in der Regel einen Umfang von 250 bis 850 Seiten und sind relativ einheitlich organisiert, wie die zahlreichen entsprechenden Handschriften auch, die sich beiläufig im übrigen deutschsprachigen Raum gefunden haben. Eine größere Anzahl von ihnen liegt mit der Ausstattung auf einem beachtlichen Niveau. Von den über zweihundert Handschriften sind 24 bei der Vorbereitung auf die Steuermannsprüfung entstanden, meist in Verbindung mit einer Navigationsschule. Sie wurden stets nach dem gleichen Muster gefertigt Abb. 1-1. Titelblatt von Jacob Mohr, (31, 1767). Abb. 1-2. Entstehungsorte der Handschriften. Kaum eine dieser Handschriften war vorher besonders beachtet worden. Bei der Suche stellte sich dann eine Art Kettenreaktion ein. Die Exemplare fanden sich in Archiven, Bibliotheken, aber auch in erheblichem Umfang in Privatbesitz. Die Bücher und Aufgabensammlungen, die diesen Handschriften zu Grunde liegen, kamen zögernder ans Licht. Heute ist für fast alle Handschriften ein Standort des verwendeten Rechenbuches bekannt, häufig auch für die passende Auflage. In einer Reihe von besonderen Fällen ist das vom Bearbeiter benutzte Exemplar vorhanden. Insgesamt wurde etwas sichtbar, das man als Rechenkultur bezeichnen darf: ein weite Gebiete und lange Zeiten übergreifendes produktives Tun, an dem, getragen von einer sehr positiven Grundeinstellung zum Rechnen und zur Mathematik, viele Menschen teilhatten. Rechenbücher der frühen Neuzeit verweisen meist auf die Bibel und zitieren: Aber du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet. Das System der Maße war in Jahrtausenden gewachsen und hatte sich mit der Zeit zu einem sehr komplexen Gebilde entwickelt. Bei den Unterteilungen der verschiedensten Maße spielen Zahlen wie 6, 10, 12, 15, 16, 20, 60 eine bevorzugte Rolle. Dabei ist die Zahl 10 nur eine unter mehreren. Zehnerteilungen sind früher sogar relativ selten. Außerdem sind die Einheiten sehr oft verschieden. Für die Herzogtümer werden zum Beispiel für die Rute als Längenmaß 18 verschiedene Längen angegeben. Es bedurfte offensichtlich großer Anstrengungen vieler Menschen, um bei steigendem Lebensstandard Münze, Maß und Gewicht zufriedenstellend handhaben zu können, zumal für den Rechenvorgang fast keine technischen Hilfsmittel zur Verfügung standen und die Ansprüche mit wachsendem Lebensstandard stiegen. Die Rechenbücher und besonders die Handschriften mit den Bearbeitungen liefern konkrete Hinweise für die Abschätzung des Umfangs dieser Bemühungen. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, das Ausmaß des Phänomens „Rechenbücher und Rechenhandschriften“ sichtbar zu machen und zu dokumentieren. Die große Tabelle 1 (3. 3. 1.) soll einen Überblick ermögligchen und ein erstes Bild vermitteln, das durch die weiterführenden Kommentare zu den einzelnen Schriften ergänzt wird (3. 3. 2.). Die Anzahl der Funde setzte enge Grenzen bei der Ausführlichkeit. Hinzugefügt habe ich, wo es mir möglich erschien, Bemerkungen zum fachlichen Niveau und zur Selbständigkeit. Vor allem die Handschriften sind heute bedroht, da sie sich vielfach in Privathand befinden. Man kennt ihre Bedeutung nicht und kann sie meist nicht lesen, da sie in deutscher Kurrentschrift geschrieben sind und überaus viele heute nicht gebräuchliche Maßbezeichnungen enthalten, die fast alle nur mit Kürzeln notiert sind. Ein besonderer Dank gebührt einer größeren Anzahl von Besitzern, die ihre Handschriften vorbeugend in die Obhut geeigneter Archive, Bibliotheken oder Museen gegeben und damit diese authentischen Zeugnisse der Geisteskultur in unserem Lande gesichert haben. Im Rückblick wird deutlich, dass sich die Zielsetzung mit zunehmender Zahl der Handschriften geändert hat. Es wurde möglich, die Gruppierungen stärker in den Vordergrund zu rücken, zum Beispiel die Handschriften aus einer Familie, aus einer Schule, einer Landschaft, oder auch die Schriften zu vergleichen, die ein und dasselbe Rechenbuch zum Gegenstand haben. Diese Möglichkeiten konnten in der vorliegenden Arbeit allerdings nur ansatzweise ausgeschöpft werden. |